Januar 2022
Januar 2022
Ovation der Geislinger für König Wilhelm I. von Preußen auf dem Bahnhof
Am 3. Oktober 1867 beehrte hoher Besuch das württembergische Städtchen Geislingen. König Wilhelm I. von Preußen (reg. 1861–1888) bereiste damals inkognito mit einem Extrazug den deutschen Südwesten und war Richtung Bodensee und die Stammburg seiner Dynastie, zur Burg Hohenzollern, unterwegs.
Als ihn in Plochingen Ministerpräsident von Varnbühler im Namen König Karls von Württemberg begrüßte, sickerte die Nachricht durch, dass er aufgrund eines Lokomotivwechsels auch in Geislingen kurz Halt machen werde. Dort erwartete ihn, am beflaggten Bahnhofsgebäude eine kleine begeisterte Menschentraube, die die Abtrennungen durchbrach, um sich dem König zu nähern. Der überraschte König gab daraufhin den Befehl, so bald wie möglich wieder abzufahren. Als der Arzt und spätere Medizinalrat Dr. Robert Knauß (1828–1910) ausrief „Preußens König, der zukünftige Kaiser von Deutschland, lebe hoch!“ winkte Wilhelm I. huldvoll der Menge zu. Dem Geislinger Arzt ließ er von der Burg Hohenzollern aus ein Dankesschreiben zukommen.
Im „Alb- und Filstalboten“, dem Geislinger Amts- und Mitteilungsblatt, bleibt das Ereignis unerwähnt. Umso mehr ließen sich dafür die „Ulmer Schnellpost“ und insbesondere das damals antipreußisch eingestellte „Ulmer Tagblatt“ darüber aus. Letzteres bezeichnete den Vorfall als eine „an Scandal grenzende Demonstration“, ferner auch als „Bahnhofskomödie“und „hirnlose Aufführung“, die den Spott „de[s] besonneneren Theil[s] der Geislinger Einwohnerschaft“ und der umliegenden Gemeinden bis Ulm hervorgerufen habe. Überdies soll auch dem König das „fanatische Gebahren“ des Robert Knauß unangenehm gewesen sein. Gegendarstellungen, wonach sich der König sehr zufrieden über diesen Empfang gezeigt hatte, bügelte das „Ulmer Tagblatt“ ab und degradierte das Ereignis zur reinen Peinlichkeit.
Die nach der Reichsgründung von 1871 angefertigte Tuschezeichnung zeugt im Rückblick vom Stolz der Geislinger Bevölkerung über diesen Vorfall. Demnach hätten die Geislinger allem Spott zum Trotz Recht behalten und bereits vier Jahre vor der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 im preußischen König Wilhelm I. ihren zukünftigen Kaiser gesehen. Diese Genugtuung schlug sich auch in lokalgeschichtlichen Publikationen nieder, in denen das Ereignis gern unter der Überschrift „Geislingen rief schon 1867 den deutschen Kaiser aus“ geschildert wurde. Zweifelsohne war Geislingen aber in Württemberg in den 1860er Jahren eine frühe Hochburg der nationalliberalen Deutschen Partei, die einen von Preußen geführten Nationalstaat herbeisehnte. In diesem Sinne überreichte eine Delegation der Stadt auch schon kurz nach der Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser, am 30. Januar 1871, der preußischen Gesandtschaft in Stuttgart ein Gratulationsschreiben.
Die Tuschezeichnung ist noch bis zum 23. Januar 2022 in der Galerie im Alten Bau im Rahmen der 36. Weihnachtsausstellung „Geislingen und die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71“ zu sehen.
Tuschezeichnung “Ovation der Geislinger Bevölkerung für König Wilhelm I. auf dem Bahnhof“
Herstellungsort/-jahr: Geislingen an der Steige, 1888
F. Amling
Inv.-Nr.: 2463