Juni 2023
Die rauchenden Schlote der WMF
Betritt man im ersten Obergeschoss des Alten Baus die Koje zum Thema Daniel Straub und die Industrialisierung in Geislingen, so fällt sie sofort ins Auge: die kolorierte Ansicht des WMF Geländes, die den Anblick des Firmenareals in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wiedergeben soll. Doch ist die Darstellung wirklich realistisch?
Die Industrialisierung veränderte nicht nur das wirtschaftliche und soziale Leben der Menschen und die Ansichten der Städte. Auch im Bereich der Kunst fand die moderne Industriegesellschaft ihren Niederschlag. Als Gegensatz zu romantischen Darstellungen oder gar modernen Strömungen des Expressionismus verdienten viele Künstler ihr tägliches Brot mit möglichst realistischer Kunst – in steter Konkurrenz zur immer erschwinglicheren Fotografie. Mancher spezialisierte sich dabei auf eine exklusive Kundenschicht: Dynastien von Industriepionieren und ihre Nachfolger, die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder namhafter Unternehmen. Abbildungen ihrer Fabrikareale, eine Vielzahl an Produktionsstätten und rauchende Schlote sollten auf viele Arbeiter, moderne Technik, gefüllte Lager und großen Profit hindeuten. Häufig besann man sich auf das traditionelle Medium der kolorierten Lithografie. Diese konnte gegenüber der Fotografie mit den Mitteln der Technik der Jahrhundertwende weitaus besser vergrößert und auch künstlerische Freiheiten eingefügt werden, die sich auch bei der Betrachtung der WMF-Ansicht offenbaren.
Wählt man heute den Standort des Betrachters in der Nähe des einstigen Ausfluglokals Wilhelmshöhe, so bietet sich ein Blick in das Rohrachtal, das nicht nur durch die heutige Bebauung bis ins Eybtal deutlich enger wirkt. Der namentlich nicht bekannte Künstler schuf sich durch die sehr breite Auslegung der Täler und die weit entfernten, niedrigen Berghänge mehr Platz für sein Sujet: Eine Flut an Industriegebäuden unterschiedlichster Größen, über welchen nicht weniger als 15 Fabrikschlote unterschiedlicher Dimension verschiedentlich qualmen. Dabei sticht keines der Gebäude heraus, sondern alle zusammen bilden eine nahezu gleichmäßige Dachlandschaft. Die auf 1913 datierte Abbildung legt auch kein Augenmerk auf neue Institutionen der WMF, wie die 1912 entstandene Fischhalle zum Verkauf von Seefisch an Arbeiter. Sogar der sogenannte Millionenbau, der mit 140 Meter Länge und 45 Meter Höhe noch heute das Areal überragt ist am linken Rand nur angedeutet. War er zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes vielleicht auch noch nicht vollendet, so muss sein geplantes Aussehen, das sich deutlich vom dargestellten und auf die Grundstruktur reduzierten Korpus unterscheidet, bekannt gewesen sein.
Das Objekt des Monats steht somit nicht nur sinnbildlich für die Entwicklung der WMF als Motor der fortschreitenden Industrialisierung Geislingens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es steht auch stellvertretend für eine Kunstrichtung, deren Spuren sich auch im Alten Bau finden lassen.
Lithografie der WMF
Künstler: unbekannt
Datierung: um 1913
Material: Papier
Inv. Nr.: 1766