Juli 2023

Das J-Rad - Ein ganz besonderes Fahrzeug

Nur wenige vermuten in den Beständen des Museums im Alten Bau seltene Fahrzeuge und tatsächlich ist der Bestand historischer Verkehrsmittel sehr überschaubar. Aus Hochrädern und anderen Fahrrädern sticht jedoch ein muskelbetriebenes Zweirad heraus: das J-Rad des Erfinders Paul Jaray.

Hatte sich der 1889 in Wien geborene Jaray während des Ersten Weltkrieges als Luftfahrtingenieur einen Namen gemacht, so legte er in den 1920er Jahren verschiedene Konzepte für stromlinienförmige Fahrzeuge vor. Entwürfe für Automobile mit Luftwiderständen, die erst im 21. Jahrhundert wieder erreicht werden sollten, wurden damals verkannt oder ab 1933 von der deutschen Rennwagenentwicklung angeeignet – ganz im Sinne der Machthaber im Dritten Reich, die die genialen Entwicklungen des in der Schweiz lebenden Ingenieurs mit jüdischen Wurzeln gekonnt bis in die Nachkriegszeit aus dem Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit verdrängten. Erst in jüngerer Zeit wird das Werk des 1974 in ärmlichen Verhältnissen verstorbenen „Vaters der Stromlinie“ wieder gewürdigt.

Dabei hatte Jaray 1921 zusammen mit den Hesperus-Werken in Cannstatt mit dem J-Rad ein erstes Serienfahrzeug auf den Markt gebracht. Auch hier lag das Hauptaugenmerk auf einer aerodynamisch günstigen Sitzposition des Fahrers, der auf landläufigen Fahrradmodellen viel Luftwiderstand erzeugt. Die Grundkonstruktion des Rahmens, der lange Lenker und die unterschiedlich großen Räder sollten den Fahrer in eine liegende Position bringen. Der bequeme Sitz in einem Sessel dient als Gegenpart zum Antrieb mittels zweier Hebelarme. Jeder Hebelarm wird vom Fahrer abwechselnd getreten und die Kraft mittels zweier Stahlseile auf das Hinterrad übertragen. Ein drittes Seil führt den nicht betätigten Hebelarm automatisch wieder zurück in seine Ausgangsposition. Der einfach gehaltene Antrieb wird durch zwei bis drei Fußrasten pro Hebelarm auf unterschiedlicher Höhe noch um eine simple „Gangschaltung“ ergänzt. Der Fahrer kann so den eigenen Kraftaufwand mit der Wahl des geeigneten Rastenpaares der jeweiligen Steigung anpassen. Nach nur wenigen Monaten und über 4000 hergestellten Exemplaren fand die Produktion des J-Rades bereits ihr Ende. Als Folge von Gerichtsverfahren über tödliche Unfälle mit dem J-Rad aufgrund von Materialfehlern entschied man sich 1923 zum Abbruch des Projektes. Fahrradmodelle mit konventionellen Rahmen- und Antriebskonzepten behielten die Oberhand auf einem Fahrradmarkt, auf dem auch heute noch Liegeräder und aerodynamisch vorteilhafte Konstruktionen ein Nischendasein fristen.

Das über einhundert Jahre alte Exemplar mit der Nummer 1845 verbrachte wohl über die Hälfte seines Fahrradlebens in einer Dachgeschossecke des Alten Baus. Wann und wie es dort hingelangte ist unklar.

J-Rad

Hersteller: Hesperus Werke Bad Cannstatt

Datierung: 1921

Material: Metall, Gummi, Kunstleder

Inv. Nr.: E 2023/4