Juni 2024

Ein Fahrrad als Familiengefährt

Mit den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg stieg auch wieder der Grad der Mobilisierung. Mündete die Entwicklung zum Ende der 1950er Jahre in eine immer größere Verbreitung von Autos, so begann das „Wirtschaftswunder“ auf der Straße nach der Währungsreform mit der Verfügbarkeit von Fahrrädern als erschwinglichen Verkehrsmitteln.

Im Verlauf des Krieges war die Produktion von neuen Fahrrädern zugunsten der Rüstungsindustrie komplett zum Erliegen gekommen. Einsparungen an Rohstoffen wie Gummi, Beschlagnahmen für militärische Zwecke und Kriegszerstörungen – all das führte zum Rückgang der Zahl an verfügbaren Fahrrädern. Um der steigenden Nachfrage nachzukommen wurden zunächst alte Fahrräder repariert aufbereitet oder notdürftig aus verschiedenen einzelnen Rädern ein Funktionierendes zusammengesetzt. In Folge der Währungsreform des Jahres 1948 erlebte die Fahrradbranche einen enormen Aufschwung. Etliche Hersteller und unzählige Händler, die als sogenannte „Konfektionäre“ vorproduzierte Fahrräder zusammenbauten, lackierten und unter eigener Marke vertrieben, fanden in nahezu allen Gesellschaftsschichten Abnehmer. Vom einfachen schwarzen Tourenrad bis zum elegant lackierten hochwertigen Sport- oder Rennrad reichte die Palette, die fast jeder Anbieter im Programm haben musste, um konkurrieren zu können. Dem Segen, den das „Wirtschaftswunder“ der Fahrradindustrie vorrübergehend brachte, folgte jedoch schon rasch die Ernüchterung. Der mit Fahrrädern überschwemmte Markt stand einem größeren Verlangen nach dem nächsten Statussymbol, dem motorisierten Zweirad oder gar einem Auto gegenüber. Ab der Mitte der 1950er Jahre kam es so zu zahlreichen Insolvenzen von Herstellern und somit zum Sterben von namhaften Fahrradmarken. Das Fahrrad trat im Nutzen wie im Status immer mehr hinter dem Automobil zurück und entwickelte sich erst im 21. Jahrhundert wieder zur beliebten Alternative – vor allem im urbanen Raum.

Die Firma Hercules, deren Gründer schon 1886 in die Produktion von Fahrrädern einstiegen, gehört zu den wenigen Herstellern, die alle Höhen und Tiefen des Fahrrads in den letzten 100 Jahren überdauerte. Das Objekt des Monats Juni stammt aus dem Jahr 1953, der Endphase der positiven Entwicklungen im Fahrradsektor. Das Herren-Sportrad Modell 112 bildete eine „Mittelklasse“ im Katalog der Hercules-Werke aus Nürnberg und beinhaltete eine Lackierung im damals beliebten Farbton Weinrot. Zwar hat das Fahrrad keine Gangschaltung, doch verfügt es neben der Rücktrittbremse über das zusätzliche Sicherheitszubehör einer starken Trommelbremse. Sie bremste nicht nur das Fahrrad und seinen Fahrer, sondern auch den kleinen Mitfahrer. Auf dem Oberrohr ist ein „Bulldog“ Kindersitz angebracht und an den Gabelseiten finden sich die passenden Fußrasten. Auf diese Weise diente das Fahrrad in den 1950er Jahren auf Geislinger Straßen als Familienfahrzeug, vielleicht bevor derselbe Haushalt wenig später das erste Auto anschaffte. Somit steht es sinnbildhaft für den Wandel im Straßenverkehr der frühen Nachkriegsjahre.

Herren-Sportrad Modell 112

Nürnberger Hercules Werke GmbH

Nürnberg, 1953

Museum im Alten Bau

 

Mehr Lust auf alte Fahrräder? Wer anlässlich des Geislinger Oldtimertreffens am 30. Juni 2024 mit seinem Fahrrad-Oldtimer (Baujahr vor ca. 1980) vor dem Alten Bau parkt erhält freien Eintritt ins Museum im Alten Bau.